Rede zum 1. August 2011

Unsere Parlamentspräsidentin Béatrice Miller sprach auf dem Festplatz Fluegarten zu rund 300 aufmerksamen Zuhörerinnen und Zuhörern über

 

«Mis Schliere»

Die Schweiz hat heute Geburtstag – und mit der Schweiz auch jene Gemeinde, die mir am nächsten steht: nämlich «mis Schliere». Über «mis Schliere» und die Lebensqualität in Schlieren möchte ich heute sprechen.

 

Herzlich willkommen dazu, liebe Schlieremerinnen und liebe Schlieremer! Herzlich willkommen aber auch liebe Gäste aus Nichtschlieren!


Hei, wie ist mein Schlieren gewachsen! Als ich zur Welt gekommen bin, haben noch weniger als 10‘000 Leute hier gelebt, heute sind es 16‘000. Und hei, wie hat sich das Gesicht meines Schlieren verändert! Neue Arealüberbauungen mit zig Wohnungen und viele neue Dienstleistungsunternehmen anstelle von Industriebetrieben.

Ist Schlieren in den letzten 50 Jahren durch alle diese Veränderungen besser geworden? Schöner? Wohnlicher? Belebter? Vielfältiger? Eigenständiger? Interessanter? Bekannter? Ich möchte fürs Erste mal sagen: vor allem anders!

Alle Veränderungen haben ihre Sonnenseiten und ihre Schattenseiten. Einige Dinge sind aber verglichen mit früher schon fast traumhaft geworden. Wenn ich als Schülerin den Zug in Zürich jeweils verpasst habe, musste ich eine Stunde auf den nächsten Zug warten. Und um meine Mutter über die Verspätung zu informieren, habe ich eine Telefonkabine suchen müssen, anstehen, Münz zusammenkratzen und einen Telefonhörer ans Ohr legen, der nach dem Rasierwasser meines Vorgängers und nach dem Parfum meiner Vorvorgängerin gerochen hat. Was sind da Viertelstundentakt und Mobiltelefon für geniale Entwicklungen!

Einige Veränderungen stimmen mich aber auch etwas wehmütig, vor allem der Verlust der vielen informellen Begegnungsorte, wo man sich früher zufällig, aber trotzdem regelmässig getroffen hat. Ich meine all die vielen Quartierläden, dann aber auch Institutionen wie das Schlieremer Kino oder die Selbstbedienungswaschküche.

In meiner Familien war ich häufig fürs Einkaufen zuständig. Noch bevor ich lesen konnte, bin ich mit der Einkaufsliste in der Hand in die Quartierläden beim Nassacker gegangen und habe die Liste und das Portemonnaie vertrauensvoll dem Verkaufspersonal übergeben. Immer bin ich mit den richtigen Lebensmitteln und dem richtigen Retourgeld nach Hause gekommen. Mit der Zeit hat sich mein Einkaufsradius vergrössert. Weil mein Vater einen Gewerbebetrieb hatte, musste meine Familie alle Läden berücksichtigen. So bin ich also durch Schlieren gezogen: zur Metzgerei Bisang, Metzgerei Fuhrer, Metzgerei Neidhart, Metzgerei Lüthi, Metzgerei Liechti, Bäckerei Kümin, Bäckerei Epple, Bäckerei Johner, Bäckerei Schilter, Lebensmittel Strebel, Lebensmittel Hollenweger, Lebensmittel Acklin und Lebensmittel Aebi. Dazu sind noch Milchläden und Drogerien gekommen. Bald hatte ich in Schlieren die Übersicht, in welcher Metzgerei die Kinder das dickste Wursträdchen erhalten und in welcher Bäckerei am meisten Guetsli zerbrochen sind — diese bekam dann nämlich ich. Und obwohl es gegen 20 Läden waren, die ich regelmässig besuchte, kannte ich alle Namen des Verkaufspersonals. Und das Verkaufspersonal kannte meinen Namen. Wie viele Personen kennen Sie heute im Coop oder in der Migros mit Namen? Bei mir sind es gerade mal zwei.

Mit viel weniger Einwohnerinnen und Einwohnern hatten wir in Schlieren früher also viel mehr Läden und eine deutlich persönlichere Bedienung. Das alles mag auch Nachteile haben. Aber mit dem Lädelisterben ist auch ein Stück Quartierleben beerdigt worden. Und mit der Reduktion von Fachgeschäften wie Papeterie oder Oscar Weber bzw. Jelmoli fehlen heute in Schlieren auch Qualitätsprodukte. Im Leitbild des Stadtrates steht zwar: „An der Grenze zur Weltstadt Zürich gelegen, bleibt Schlieren ein eigenständiger Ort.“ Ich finde aber, das Schlieremer Produktesortiment ist zu einem Agglosortiment geworden. Qualitätsprodukte — von Papeterieartikeln bis Pyjama — müssen wir Schlieremerinnen und Schlieren heute dort kaufen, wo Zürich keine Zukunft hat ((in Anspielung auf den Slogan „Schlieren, wo Zürich Zukunft hat“)).

 

Was ist Lebensqualität?
Ich habe mich schon oft gefragt: Stimmt die Lebensqualität für mich in Schlieren? Und was macht die Lebensqualität in Schlieren aus? Ein wichtiger Punkt war für mich immer: zentral gelegen, aber sofort in der Natur. Zudem eine gute Infrastruktur wie Spital oder Kinderkrippe.

Und wie sieht es bei Ihnen aus? Was ist Ihnen punkto Lebensqualität besonders wichtig?

Die Lebensqualität ist in der Schweiz relativ hoch. Es gibt aber fünf Punkte, auf die die Schweizerinnen und Schweizern besonderen Wert legen:

 

1. Gemäss Experten legen die Schweizerinnen und Schweizer besonders viel Wert auf eine sichere und nachhaltige Umwelt, weil diese die Grundlage für ein stabiles Leben bildet.

2. Die Schweizerinnen und Schweizer finden den sozialen Zusammenhalt wichtig. Dieser ermöglicht ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen.

3. Ein dritter wichtiger Aspekt ist der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, also ein gut funktionierendes Gesundheitswesen, ein breites Kulturangebot, gute Ausbildungsmöglichkeiten und leichter Zugang zu Informationen.

4. Ein grosses Anliegen ist den Menschen in unserem Land, dass sie ihre Arbeit, ihre gesellschaftliche Verpflichtungen und ihr Privatleben in ein verträgliches Gleichgewicht bringen können.

5. Und zum Schluss möchten die Leute ihre eigenen Bedürfnisse entfalten können, sei es kreativ und/oder spirituell.

 

Von den fünf genannten Punkten können Sie nur einige wenige ganz alleine für sich selbst beeinflussen. Die meisten Bedürfnisse können wir nur als Gemeinschaft decken. Ich möchte im Folgenden vor allem auf zwei Aspekte eingehen, nämlich auf die nachhaltige Umwelt und den sozialen Zusammenhalt.

 

Nachhaltige Umwelt und sozialer Zusammenhalt (Begegnung)
In der Schweiz leben fast drei Viertel der Bevölkerung in städtischen Gebieten. Und die Agglomeration Zürich ist mit Abstand die grösste der Schweiz. Die Agglomerationen Genf und Basel haben nicht mal halb so viele Einwohner. Bern und Lausanne sogar nur einen Drittel. Wir leben also in Schlieren mittendrinn im «Gräbbel» der grössten Schweizer Agglomeration.

Städte produzieren (pro Fläche) mehr Abgas und Abfall und brauchen mehr Energie als ländliche Gegenden. Sie sind deshalb besonders gefordert, nachhaltig zu handeln, damit auch zukünftige Generationen ihre Bedürfnisse decken können. Es beruhigt mich, dass unser Stadtrat in seinem Leitbild schreibt: „Landschaft und Umwelt wird Sorge getragen: Schlieren bleibt Energiestadt. Der bestehende Grünraum bleibt erhalten.“ Gemeint sind Grünräume wie Limmatufer, Stadtpark, Schlierenberg und Schlieremer Wald.

Nicht nur die Stadt, sondern auch Sie und ich könnten mehr für die Umwelt tun. Ich bin sicher, wir alle könnten es schmerzlos verkraften, weniger Energie zu verbrauchen als heute. Und zusätzliche Grünräume können wir auch im dicht besiedelten Gebiet schaffen: „City Farming“ oder „Urban Farming“ nennt man neudeutsch den Gemüseanbau auf dem Hochhaus oder den Gemüseanbau mitten in der Stadt wie bei uns in der Ringstrasse. Aber auch vertikale Gärten sind ein Thema in verdichteten Gebieten. Diese tun nicht nur dem Auge gut, sondern besitzen auch eine ökologische Ausgleichsfunktion.

In Schlieren wird intensiv und dicht gebaut. Je verdichteter gebaut wird, desto parkartiger werden die Namen der neuen Arealüberbauungen: Rietpark, Steinwiesenpark, Hüblerpark, Parkside, Gartenstadt und Giardino. Diese Namen schaffen hohe Erwartungen an die Grünräume und diese Erwartungen werden manchmal zu Illusionen – so ist es mir anfangs Juli ergangen:

Offenbar ein wenig naiv habe ich mir bei der neuen Überbauung Parkside einen Innenhof mit kleinem Park vorgestellt. Darum herum eine Ladenpassage, in der man vor Regen geschützt gemütlich einkaufen kann und die Ladenbesitzer ihre Lockartikel bei jedem Wetter vor den Laden stellen können. In dieser Ladengemeinschaft gibt es auch ein Café, das bei schönem Wetter im Park serviert — ähnlich wie im Park beim Bahnhof Stadelhofen. Gemütliches Shopping und Treffpunkt also zu jeder Jahreszeit.

Was finde ich vor? Keine Pflanzen, keine Parkbänke, keine Vordächer. Und wo hat es etwas, das mich zum Bleiben einlädt? An der besten Passantenlage gibt es eine nüchterne, menschenleere Halle, einzig mit einem Bankomaten bestückt.

Für uns Schlieremerinnen und Schlieremer wären zusätzliche, einladende Begegnungsorte wichtig, weil sie der Anonymität entgegen wirken und unseren sozialen Zusammenhalt fördern. Die zentrale Lage des Parkside wäre perfekt geeignet als Begegnungsort. Diese Chance haben wir leider verpasst.

Nachdem ich im und rund ums Parkside mehr Parkplätze als Parkbänke gefunden habe, habe ich mich gefragt, ob ich den Begriff „Park“ etwa falsch verstehen würde. Was meint denn Wikipedia zur Bedeutung des Begriffs “Park“? „Park kommt von lateinisch „Parricus“, das Gehege, und bezeichnet eine grössere Grünfläche, die der Verschönerung und der Erholung dient. Die Funktion von Parks als „grüne Lungen“ ist in der Nähe von Städten und Ballungsgebieten besonders wichtig. Das bezieht sich auf die Sauerstoffbildung, aber auch auf die Wirkung als Staubfilter durch Blätter und Nadeln.“

Vielleicht denken Sie, na gut, als zusätzliche „grüne Lunge“ im Herzen von Schlieren beabsichtigt der Stadtrat ja, den Stadtpark zu vergrössern. Aber erinnern Sie sich an meine Geschichte mit den Quartierläden? Einkaufen ist auch Begegnung. Und je einladender eine Einkaufszone ist, desto eher verweilt man dort.

Vor einigen Jahrzehnten war die Bahnhofstrasse zwischen Bahnhof und Bus-Endhaltestelle so richtig schön belebt. Ein lebendiges Zentrum entsteht nicht durch Personen, die durchfahren, umsteigen oder weiterlaufen, sondern durch Personen, die anhalten und verweilen. In diesem Punkt muss im Herzen unserer Stadt noch einiges verändert werden. Man muss in Zukunft dort wieder gerne anhalten und sich aufhalten. Bei der Gestaltung von Gebäuden und Plätzen dürfen die Architekten nicht nur an ihre Selbstverwirklichung denken, sondern an die Menschen, die sie benützen. Und es wäre schön, wenn auch die Investoren auf die Bedürfnisse der Stadt und ihrer Bevölkerung eingehen würden. Und was meint der Stadtrat in seinem Leitbild 2010-2014 zur Entwicklung des Zentrums? „Das Zentrum von Schlieren wird attraktiv.“

 

Engagieren Sie sich für unsere Lebensqualität!
Wenn ich vom Bahnhof nach Hause gehe, dann träume ich oft von einer Flaniermeile zwischen Bahnhof und Salmen. Und in meiner Freizeit träume ich von einem idyllischen Fuss- und Veloweg, der Schlieren Nord mit Schlieren Süd verbindet. Mein Schlieren ist eine pulsierende, lebendige Stadt mit Oasen der Ruhe und Natur.

Haben auch Sie Träume? Wir sollten die Entwicklung der Lebensqualität in Schlieren nicht alleine dem Stadtrat, der Stadtverwaltung, den Architekten und den Investoren überlassen. Engagieren Sie sich für Ihr Schlieren! Engagieren Sie sich für unser Schlieren! Zum Beispiel in der Politik oder in einem der über 100 Schlieremer Vereine. Schaffen Sie selbst neue Begegnungsorte! Organisieren Sie beispielsweise einen Sonntagsbrunch in Ihrer Siedlung! Veranstalten Sie ein Quartierfest! Oder gründen Sie einen Nordic Walking Treffpunkt an der Limmat!

Bald werden Sie eine ganz besondere Gelegenheit haben, um Schlieremer Freundschaften zu pflegen, nämlich am Schlierefäscht vom 2. bis 11. September. Ich freue mich darauf, Ihnen am Schlierefäscht zu begegnen und mit Ihnen zusammen zu lachen. ((in Anspielung an den Slogan des Schlierefäscht: „Schliere lacht“))

Jetzt aber wollen wir zuerst den 1. August zusammen feiern! Ein grosses Dankeschön geht an die Kulturkommission und den Rotary Club Zürich-Limmattal. Sie ermöglichen uns den heutigen Abend. Und schön, dass Sie alle auf den Schlierenberg gekommen sind!

Ich wünsche Ihnen viele schöne und bereichernde Begegnungen in unserem Schlieren.

 

Und hier den Text als PDF-Datei.